Da ich fast zwei Jahrzehnte im ORF als Journalist gearbeitet habe, auch mal gewählter Redakteursrat und später Pressesprecher des Unternehmens war, drängt es mich, zur Objektivitätsdebatte Stellung zu beziehen.
Die Aufregung, ob im ORF Lügen verbreitet werden, geht weitestgehend an der Problematik völlig vorbei. Dass ORF Journalisten wissentlich tatsächliche Lügen ausstrahlen ist nahezu auszuschließen. Also nicht, dass sie etwa einer an den ORF herangetragenen Geschichte aufsitzen, die sich dann als Lüge entpuppt. Das wäre dann eine Frage der Verletzung des ehernen journalistischen Grundsatzes „ Check-double check-triple check“. Diese Hintanhaltung journalistischer Professionalität kommt leider immer öfter vor, weil die Zahl der sich Redakteure nennenden ORF MitarbeiterInnen, die sich einer bestimmten politischen Richtung, oder einem Thema subjektiv verpflichtet fühlen übergroß geworden ist. Und genau da treffen mangelnde Professionalität auf das „Sendungsbewusstsein“ und den häufig zu Tage tretenden Gruppenzwang. Salopp gesagt, will man in der Kollegenschaft ( nunmehr wohl treffender als „gleichgesinnte Community“ zu bezeichnen) „dazugehören“ und schon jeder unterlassene Versuch, in einem Beitrag, oder Interview an die Grenzen des journalistisch gerade noch zulässigen zu gehen, wird quasi mit dem Ausschluss aus der medialen Community bestraft. Dazu kommt die als Mut verstandene und dem Zeitgeist gehorchende tägliche Praxis, die oft dazu führt, dass gerade neu hinzugekommene MitarbeiterInnen förmlich von der entsprechenden Kollegenschaft vereinnahmt werden, sodass sich eine gesunde, professionelle Äquidistanz gar nicht entwickeln kann.
Längst wird der Versuch, über journalistische Fairness und einer umfassenderen Deutung des Objektivitätsgebotes zu reden, abgeschmettert. Auch wohl deshalb, weil sowohl die professionelle Selbstkontrolle, als auch die von redaktionell vorgesetzten Kollegen vorzunehmende rein professionelle Kontrolle nicht existiert. Wie sonst hätte eine durch geschnittene Wiedergabe eines Straßenmitschnittes im Tiroler Wahlkampf inhaltich völlig verdrehte Darstellung passieren können? Was ist da passiert, dass der für den Beitrag verantwortlichen Redakteurin nicht einmal der Hauch an journalistischen Selbstzweifeln gekommen sind? Wohl im Gegenteil: Ich unterstelle ihr, dass sie sich sogar als besonders mutig und klassenkämpferisch vorgekommen ist. In welchem mindset findet redaktionelle Arbeit in der ORF Abteilungen statt?
Die wirkliche Problematik über die faire und „objektive“ Berichterstattung des ORF liegt mittlerweile viel tiefer und die Politik zwirbelt noch immer an einem Objektivitätsbegriff á la „KommAustria“, und sonstiger die Objektivität zu überprüfen habender Institutionen herum.
Längst betreffen die Meinungsbildenden Verhaltensformen journalistischer Darstellung andere Kriterien, als sie im Objektivitätsgebot ausreichend erfasst sind. Und das besondere daran: die meisten davon bewegen sich durchaus innerhalb der klar messbaren gesetzlichen Grenzen. Einfach deswegen, weil der Gesetzgeber es nicht schafft, auch nicht schaffen kann, alle quasi „subcutanen“ Formen der Nicht-Objektivität zu beschreiben. Das war früher selten ein Problem, weil das journalistische Selbstverständnis ausreichte, um diese unzulässigen Präsentionsformen bei Interviews, Diskussionen, Auswahl von „Experten“, live talks und Zitierungen nicht hochkommen zu lassen.
Heute ist vieles gängige Praxis und entzieht sich –noch- sowohl der Selbstkritik, als auch dem öffentlichen journalistischen Anstandsempfinden:
Viele Formate gehorchen dem Quoten machen ( durchaus in allen TV Senden, und bei weitem nicht nur im ORF ), es ist ein verkommenes Polit-Entertainment, bei dem sich die jeweiligen Claqueur Gruppen imaginär Schenkel klopfend freuen, wenn der Schlagabtausch zwischen ModeratorIn und Gast ( in Diskussionsrunden, aber auch Studio Interviews ) ihre Sicht der Dinge bestätigt.
In Interviews, egal ob im Studio, oder sonst wo , in Aufsagern von RedakteurInnen etc. reichen eine hochgezogene Augenbraue, ein die Glaubwürdigkeit des Gegenübers optisch anzweifelnder Gesichtsausdruck, Mundwinkeln bis an die Grenze des Lächerlichmachens verzogen werden aus , um die faire kritische Fragestellung zu ersetzen und Meinung zu machen. Und wenn doch zur Sprache als Stilmittel gegriffen wird, dann sind es häufig die schmückenden Beiwörter ( Epitheta ornantia), die das Gesagte des Interviewpartners beliebig verstärken, oder als lächerliche Behauptung da stehen lassen. Möglicherweise wird auch dem Urteil der ZuseherInnen nicht mehr vertraut, sich ein eigenes Bild zu machen. Und das alles findet Redaktionsintern ungeahndet statt.
Andere Methoden der Missachtung journalistischen Anstands betreffen die Auswahl von TeilnehmerInnen in Diskussionsrunden, das Hervorzaubern von „Experten“, die zwar keiner kennt und die auch keine Relevanz besitzen, aber halt irgendeine, ins Konzept passende Aussage zum Besten geben.
Ganz zu schweigen davon, dass es den Redaktionen je nach Absicht frei steht, ein noch so nebensächliches Thema über Tage am Kochen zu halten ( das gilt für alle Teile des politischen und gesellschaftlichen Spektrums ), oder ein großes Thema sehr sehr schnell abzuhandeln und aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verbannen . Es ist dies die Macht der Auswahl, die sich der Kontrolle entzieht, und wenn der Grundsatz der Fairness und der Distanz zu den Ereignissen nicht mehr die Richtschnur ist , dann schreien die Akteure geradezu nach mehr Kontrolle, die aber einen wirklich kritischen, wissenden, inhaltsbezogenen Journalísmus gefährden.